Wortverkündigung zu Lukas 2,7:
Herman Hoeksema
Die Abenddämmerung war angebrochen. Die Schatten wurden länger.
Schweigend legte sich das Zwielicht über Stadt und Umland von Bethlehem. Noch war die Farbenpracht der Landschaft nicht völlig verblasst, doch nach und nach wurden das tiefe Blau des Himmels über Palästina, das kräftige Grün der Ölbäume und der sanftere Ton der Mandelsträucher von der aufkommenden Dämmerung verschluckt und zerflossen zu abendlichem Grau. Selbst zu dieser späten Jahreszeit – es war Winter im Verheißenen Land – boten die üppigen Felder, die weinbedeckten Hügel und die Terrassengärten, die die Stadt Davids umgaben, einen prachtvollen Anblick.
Zwei erschöpfte Reisende näherten sich der alten Stadt, der Stadt von Israels berühmtestem König: ein Mann, voll jugendlicher Kraft trotz sichtbarer Müdigkeit, und eine junge Frau, kaum dem Mädchenalter entwachsen. Ihrer äußerlichen Erscheinung nach zu urteilen, zählten sie nicht zu den Wohlhabenden des Landes. Vielleicht hätte ein aufmerksamer Beobachter Spuren längst vergangenen Adels an diesen beiden Fremden wahrgenommen. Ansonsten machte der Mann den Eindruck eines Handwerkers, und auch die Frau war in das Gewand einer einfachen Israelitin gehüllt. Offenbar hatten die beiden einen langen Weg hinter sich. Sie gönnten sich keine Pause, um etwas von der Schönheit des Abends aufzunehmen. Ein erleichterter Seufzer entfuhr ihnen erst, als sie, nachdem sie die Gärten, die den Ort umgaben, durchquert hatten, endlich die Stadt ihrer Väter betraten.
In der kleinen Stadt Bethlehem herrschte geschäftiges Treiben. Aufgrund des Befehls des großen Kaisers, der auch Joseph und Maria hierher geführt hatte, quoll die Stadt von Besuchern über, die gekommen waren, um sich registrieren zu lassen. So kam es, dass in jedem Haus Gäste untergebracht waren und auch die Herberge bis unters Dach belegt war. Den beiden Fremden aus Nazareth blieb keine andere Wahl, als sich in den schäbigen Gebäuden am Stadtrand nach einem Nachtlager umzusehen, dort, wo auch das Vieh der vorbeireisenden Karawanen untergebracht war.
Die Nacht war bereits hereingebrochen, als sie sich anschickten, sich für die Nacht einzurichten.
Denn es war kein Platz für sie in der Herberge.
Kein Platz für die Gesegnete unter den Frauen
Es war kein Platz für sie …
Dabei war Maria die Gesegnete unter den Frauen! So hatte sie der Engel gegrüßt, als er ihre ärmliche Behausung in Nazareth aufsuchte, mit der wundersamen Botschaft auf seinen himmlischen Lippen, dass eine Jungfrau einen Sohn gebären werde. Dieselben Worte hatte ihr auch ihre Cousine Elisabeth zugerufen, als sie diese besuchte: „Gesegnet bist du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes!” (Lk. 1,42). Und aus der sonst so stillen Maria, die sich vorgenommen hatte, diese Dinge in ihrem Herzen zu behalten und zu bedenken, war es freudig herausgesprudelt: „Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich über Gott, meinen Retter, dass er angesehen hat die Niedrigkeit seiner Magd; denn siehe, von nun an werden mich glückselig preisen alle Geschlechter!” (Lk. 1,46–48).
Über alle Maßen gesegnet war Maria unter den Frauen.
Sie war nicht einfach wegen der frohen Erwartung baldiger Mutterschaft gesegnet. Gewiss war auch das ein Segen in jener Nacht der Nächte, als sie und Joseph aus Bethlehems Herberge hinausgedrängt worden waren und Unterschlupf in einem Viehstall suchen mussten. Tiefes Glück erfüllt das Herz von Eltern, die Schmerzen der werdenden Mutter sind rasch vergessen angesichts der Freude, ein Kind zur Welt gebracht zu haben. Zweifellos in Erwartung dieses Glücks richtete Maria in jener Nacht im Stall ihr Lager her.
Allerdings hätte sie sich in dieser Hinsicht nicht von jeder anderen Mutter in der Welt unterschieden. Außerdem kann die Freude, ein Kind zur Welt zu bringen, durchaus auch gemischt sein. Die bloße Erwartung von Mutterfreuden machte Maria also nicht zur überaus Gesegneten unter den Frauen.
Eine größere Freude erfüllte Marias Herz, weil sie als Mutter ihren Platz unter den Müttern Israels einnehmen sollte, die ihre Kinder in der gesegneten Hoffnung gebaren, die Verheißung zu verwirklichen, die schon den Urvätern gegeben worden war. Inmitten allen Schmerzes, im festen Glauben an die Verheißung und mit Abraham nach dem himmlischen Vaterland Ausschau haltend, blickten diese Mütter im Gnadenbund voller Hoffnung weit über das Hier und Jetzt dieser Welt hinaus auf die gesegnete und ewigwährende Herrschaft des mächtigen Sohnes Davids. Diese Hoffnung teilte Maria mit ihnen. Sie blickte voraus auf die Verwirklichung von Israels Hoffnung. Das unterschied sie von tausenden anderen Frauen, die so gesehen umsonst in Wehen lagen, weil es nur Wehen für die Welt waren. Doch auch das war nicht die Ursache für Marias übergroße Freude und ihr Gesegnetsein.
Denn unter den Frauen des Bundes und gläubigen Müttern in Israel nahm Maria einen einzigartigen Platz ein. Hatte nicht der Engel Gottes auf wundersame Weise die Botschaft vom Himmel herabgebracht, dass sie Mutter werden sollte, obwohl sie noch Jungfrau war? Und hatte er nicht auf ihre besorgte Frage, wie denn das geschehen solle, erklärt, dass die Kraft des Höchsten sie überschatten werde und dass darum das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt und auf ewig auf dem Thron Davids sitzen werde? Sollten sie und Josef nicht gemäß himmlischer Anweisung ihrem Sohn den Namen Jesus geben, weil er sein Volk von ihren Sünden retten werde? Maria sollte die Mutter von Israels Erlöser sein! Der König der Könige sollte ihr eigenes Fleisch und Blut annehmen! Das war ihr einzigartiges Vorrecht aus der Hand des Herrn.
Diese frohe Hoffnung sollte sich in eben jener Nacht erfüllen.
Aber es war kein Platz für sie, nicht einmal in der Herberge. Und weil kein Platz für sie war, war auch kein Platz für den, den sie gebären sollte.
Das bedeutet, dass Jesus schon im Augenblick seiner Geburt an den äußersten Rand der Welt gedrängt wurde – in einem Stall geboren und in eine Futterkrippe gelegt.
Denn es war kein Platz für ihn in der Herberge.
Kein Platz für den König Israels
Kein Platz für Ihn!
Eine befremdliche, aber prophetische Situation!
Voller seltsamer und rätselhafter Widersprüche ist die Krippe im Stall von Bethlehem. Ist dieses Neugeborene nicht der König Israels? Aber wurde jemals ein König unter Umständen geboren, die so bettlerhaft und erbärmlich armselig waren, alles andere als königlich? Ist dieses Kind nicht der allmächtige Gott, von unendlicher Herrlichkeit, den die Himmel und aller Himmel Himmel nicht fassen können? Und doch ist es in Windeln gewickelt und in eine Krippe gelegt! Hatte nicht Gott durch den Engel angeordnet, er solle Jesus genannt werden, weil er sein Volk von ihren Sünden retten werde? Und doch wird er von demselben Volk, das zu retten er gekommen ist, hinausgedrängt! Der König Israels in elender Armut! Gott in Windeln! Der Heiland abgeschoben an den äußersten Rand der Welt!
Die überfüllte Herberge ist ein prophetisches Bild der Beziehung der Welt zu dem, der im Stall geboren wurde.
Für ihn ist kein Platz.
Kein Platz ist für ihn in Israel. Kein Platz ist für ihn, den Zimmermannssohn, in seiner Heimatstadt. Schon bald drängt man ihn an den Rand des Abgrunds, um ihn aus der Welt hinauszustoßen. Kein Platz ist für ihn in den Herzen und Gedanken der weltlich gesinnten Brotsucher von Kapernaum, die sich, erzürnt über seine Rede, von ihm abwandten. Kein Platz ist für ihn in Jerusalem, das die Propheten tötet, unter Priestern und Ältesten und im Hohen Rat, im Sanhedrin. Diese ganze Welt drängt schließlich zusammen und vereint sich in dem Ruf: „Fort, fort mit ihm!” (Joh. 19,15).
Schließlich treiben sie ihn ans verfluchte Holz.
Denn in der Herberge der Welt ist kein Platz für ihn.
Kein Platz für den Christus der Schrift
Aber ist die Beziehung zu ihm in der heutigen Welt anders?
Oberflächlich betrachtet scheint es tatsächlich anders zu sein.
Wer in der modernen religiös-christlichen Welt verehrt nicht den Meister und schwört bei seinem Namen? Wer macht nicht „X-mas” zum Festtag, zeigt den Kindern das süße kleine Baby in der Krippenwiege und erzählt ihnen, wie aus einem armen Jungen, der von Geburt an alle gegen sich hatte, ein wahrhaft großartiger Mann wurde? Wer in der modernen religiösen Welt wollte sich weigern, dem guten Mann von Galiläa auf seinem Weg durch das Land seines Volkes zu folgen, sich alle seine guten Werke für die Gesellschaft zum Vorbild zu nehmen, seinen bemerkenswerten reform-orientierten Diskursen, die voller Liebe sind, zu lauschen, zu sehen, wie er die Hungrigen speist, die Kranken heilt, Mitleid mit den Armen und Bedürftigen zeigt und Zöllner und Sünder in seine Gemeinschaft einlädt? Mehr noch, wer wollte sich weigern, ihm nach Golgatha zu folgen, um Anschauungsunterricht zu nehmen und zu lernen, dass wir genauso wie er bereit sein müssen, unser Leben für unsere Mitmenschen zu geben? Wahrlich, eine solche Welt verehrt Jesus, den Gutmenschen, den Meister, der uns die Vaterschaft Gottes und die Bruderschaft der Menschen verkündet hat, den Friedefürst, der uns gelehrt hat, unsere Schwerter zu Pflugscharen und unsere Speere zu Rebmessern zu schmieden!
Die Herbergstüren der Welt scheinen sperrangelweit offen zu stehen, und die Menschenmenge im Innern ermuntert ihn, seinen Platz in ihrer Mitte einzunehmen.
Doch sie alle erliegen einer Illusion. Sie meinen einen Jesus, der ihrer eigenen Vorstellung entspringt, einen Phantommenschen, ein Traumbild.
Ihr braucht nur anzufangen, vom Christus der Schrift zu sprechen, dessen Armut unsere ist, der sich bis in den Tod entäußerte und sein Lebensblut vergoss aufgrund von Gottes Gerechtigkeit und unserer Ungerechtigkeit. Geht an die Tür der Welt-Herberge und lasst Jesus von Sünde und Gerechtigkeit und Gericht sprechen. Redet zu dem Gewimmel in der Herberge, dass sie in seinem Blut gewaschen werden müssen, und dass Christus gar nichts für sie sein kann, kein Vorbild, kein Meister, kein guter Mensch und kein Lehrer, wenn er nicht zuallererst ihr Heiland ist, der sie als sein Volk erkauft hat und den Schmutz der Schuld von ihren Herzen und Sinnen abwaschen muss. Im gleichen Moment wird man euch die Herbergstür vor der Nase zuschlagen, und von drinnen werdet ihr nur noch das Murren der galiläischen Brotsucher hören: „Das ist eine harte Rede! Wer kann sie hören?”(Joh. 6,60).
Die Welt von heute ist wie die Welt zur Zeit Jesu: In der Herberge ist für ihn kein Platz.
Kein Platz, den die Welt ihm zuweist
Kein Platz!
Das ist nicht verwunderlich. Denn auf der einen Seite ist es doch so, dass die Menschen in der Herberge dieser Welt dem Fürsten dieser Welt dienen, denn er herrscht dort. Unter seiner Herrschaft lässt Finsternis ihre Augen erblinden, so dass sie das Licht, das in ihre Mitte scheint, nicht sehen können. Ihre Herzen sind erfüllt von Feindschaft gegen Gott und seinen Gesalbten, weil er bezeugt, dass ihre Werke böse sind. Statt des Lichts lieben sie die Finsternis. Christus aber ist das Licht, das ohne Ansehen der Person die finstere Heuchelei des menschlichen Herzens aufdeckt und die weißgetünchten Gräber der pharisäischen Seele öffnet. Ohne zu zögern entkleidet er jeden Menschen seines prahlerischen Stolzes und aller Selbstgerechtigkeit und stellt ihn nackt vor den hin, der gerecht richtet und dessen Augen die tiefsten Winkel der Seele ausbrennen.
Solange die finstere und feindselige Welt nicht von Christi eigener gnädiger Kraft verwandelt wird, muss sie sich einfach weigern, ihn einzulassen. Sie kann nicht anders, als ihn hinauszudrängen.
Auf der anderen Seite darf sich kein Fleisch in seiner Gegenwart rühmen.
Denn eines ist gewiss: Dieser arme Säugling von Bethlehem, für den kein Platz in der Herberge war, ist dazu bestimmt, seinen Platz in der Welt einzunehmen. Aber dieser Platz wird ihm nicht von der Welt zugewiesen, sondern den schafft er sich durch das Wunder seiner eigenen Gnade selbst. Ihm allein kommt alle Ehre zu. Vom Rand der Welt, von einem schäbigen Stall aus, bahnt er sich seinen Weg in die Welt. Über das Kreuz und durch das Grab schreitet er unbeirrt voran, bis er in die höchsten Himmel aufgenommen wird und Engel und Herrschaften und Gewalten ihm untertan sind. Von dort sendet er als der Herr des Himmels seinen lebendig machenden Geist, bahnt sich den Weg in die Herzen von Tausenden aus allen Nationen, Sprachen und Stämmen, indem er die Sünde aufdeckt, den sündigen Stolz bricht, dünkelhafte Pharisäer in demütige Zöllner verwandelt, sie reinigt und rechtfertigt und in ihnen wohnt, gleichwie der Vater in ihm wohnt. Und so, durch die unwiderstehliche Kraft seiner Gnade, errichtet und vollendet er den geistigen Tempel von Gottes Gnadenbund: „Ich in ihnen und du in mir, damit sie zu vollendeter Einheit gelangen.” (Joh. 17,23).
In der Herberge war kein Platz für ihn. Was für ein trauriger Anfang! Doch Christus schafft sich selbst Platz. Platz in eurem bedrückten und zerschlagenen Herzen, Platz in eurer müden und gequälten Seele, Platz in den Herzen aller, die sein Vater ihm gegeben hat, Platz im Himmel und auf Erden, bis alle Reiche dieser Welt ihm zu Füßen liegen.
Dann wird Platz für ihn und die Seinen sein, und für niemanden sonst. Und dies wird in Ewigkeit währen, und aller Dank dafür gilt Gott, dem Vater unseres Herrn Jesus Christus.
Allein aus Gnade!
Übersetzung erstmals veröffentlicht in Bekennende Kirche
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